Die Renaissance der Mittelstädte? - Überschaubarkeit und Sicherheit als Standortfaktor

Die Innenstädte sind ins Gerede gekommen. Gab es hierzulande jemals eine derart intensive Berichterstattung über die Bedrohung der Stadtzentren wie in den vergangenen Monaten?

Einerseits gilt der ständig steigende Anteil des Internethandels am Gesamtkonsum als Ursache für die zunehmende Anzahl leerstehender Ladenlokale. Andererseits sollen die vom Gesetzgeber noch restriktiv gehaltenen Öffnungszeiten schuld sein an der Misere des innerstädtischen Einzelhandels.

Mit Einbruch der Corona-Pandemie im März des Jahres waren die Fußgängerzonen dann im „Shut-Down“ plötzlich über Wochen hinweg komplett wie leergefegt.

Als kurz darauf auch noch die Nachricht von der geplanten Schließung von etwa 60 Karstadt- und Kaufhof / Galeria Häusern die Runde machte, wurde das Thema endgültig zur kommunalpolitischen Chef-Sache erhoben.

„Der Boom des Onlinehandels hat viele Innenstädte öder gemacht. Gibt ihnen das Virus jetzt den Rest?“ fragte der SPIEGEL sorgenvoll. Selbst in Großstädten, die bislang wegen ihrer überdurchschnittlich hohen Zentralität kaum über Umsatzeinbußen zu klagen hatten, begreifen Lokal-Politiker plötzlich, was ihre Kollegen in den Mittelzentren und vor allem in den Kleinstädten bereits seit langem wissen: Das „System Fußgängerzone ist schwer erkrankt“.

Die eigentlich undenkbaren Schließungen von Filialen der Karstadt-Kaufhof-Gruppe selbst in bester Lage von Hannover (Georgstraße) oder Düsseldorf (Am Wehrhahn) werden nun bittere Realität. Während es in den beiden Landeshauptstädten nach Ablauf der unvermeidbaren Schockstarre bald wieder möglich sein dürfte, durch neue Nutzungskonzepte die Leerstands-Lücke schließen zu können, wird es wohl in jenen Städten sehr viel problematischer werden, wo genau diese Kaufhäuser bislang als zentraler Magnet für Einkaufspendler galten. Nach deren Schließung ohne eine baldige Neuvermietung könnte dort die gesamte Balance der über viele Jahre gewachsenen Fußgängerzone ins Wanken kommen und zu einer vollständigen Verödung der ehemals pulsierenden Innenstadt führen. Der zum Gütesiegel erhobene Begriff der „1A-Lage ist für viele Eigentümer von Verkaufsflächen also längst nicht mehr die Garantie dafür, dass der schleichende innerstädtische Krankheitsverlauf an der eigenen Immobilie vorbeigeht.

Corona: Schuld an allem?

Vieles spricht dafür, dass auch ohne die Verbreitung des Covid-19 Virus ein radikales Umsteuern zur erfolgreichen Weiterentwicklung der City mehr als überfällig war bzw. ist.

Die Wiedergesundung der Innenstädte ist nur dann möglich, wenn alle vor Ort beteiligten Akteure den Mut für eine schonungslos ehrliche Bestandsaufnahme aufbringen und den sich kurz- bis mittelfristig abzeichnenden Trends vor allem auf der Nachfrageseite nicht verschließen.

Welche Zielgruppen zieht es überhaupt noch in die Innenstädte, wenn man die meisten Besorgungen mittlerweile online erledigen kann? Der Pandemie-bedingt verstärkte Trend zum Cocooning, dem sich gemütlichen Einrichten im eigenen Zuhause, brachte in den vergangenen Monaten starke Zuwächse für Garten- und Baumärkte, für Möbelgeschäfte und für Fachgeschäfte mit Deko- und Hobbybedarf.

Erste Vorboten eines Mobilitätswandels beflügelten den Fahrradhandel. Zudem konnten die Drogeriemärkte starke Umsatzzuwächse verzeichnen.

Deutliche Einbrüche der Verkaufszahlen gab es hingegen vor allem bei Bekleidung und Schuhen, was zwei wesentliche Ursachen hat: Shoppen als Freizeiterlebnis entfällt bei vielen, da Schutzmaske und „Social Distancing“ nicht gerade stimulierend wirken.

Zudem haben viele Menschen über Wochen hinweg zuhause feststellen können, wie wenig bzw. welche Dinge sie überhaupt benötigen, wenn einerseits der Büroalltag mit Kollegen und Vorgesetzten und andererseits auch alle Feste, Kultur-, Musik- und Sportveranstaltungen wegfallen. Wem kann man sein neues Mode-Outfit dann überhaupt noch vorführen?

Die Grenzen zwischen eigenem Zuhause und Arbeitsplatz sind durch den Trend zum Homeoffice verschwommen, was grundsätzlich zu einer Verschiebung der Mode-Trends führt – weg von Business-Look hin zum Casual-Wear: Poloshirt statt Business-Hemd und Sneaker statt klassischem Lederschnürschuh.

Wer in seinem Umfeld einmal ganz bewusst nur auf die Füße seiner Mitmenschen achtet, wird erstaunt sein, welchen hohen Anteil Turnschuhe und Sneakers inzwischen haben. Sind es 70, 80 oder sogar mehr als 90 %? Man muss sich also nicht wundern, wenn sich dann der Einzelhandelsbesatz in den Innenstädten entsprechend verändert. Immer mehr traditionelle Textilhäuser und Schuhhändler verlassen die Innenstadt und werden durch sogenannte Streetwear-Anbieter wie Foot-Locker, Snipes oder JD-Sports ersetzt.

Veränderungen im öffentlichen Raum

Etwas schwerer lässt sich die Frage beantworten, welche Kunden zukünftig überhaupt noch während der Woche von Montag bis Donnerstag für auskömmliche Handelsumsätze in den Innenstädten sorgen sollen, wenn es am Ort weder eine Hochschule mit studentischem Leben, noch touristische Attraktionen gibt, die für Busse voll von Besuchern als Kaufkraftgaranten sorgen.

Für Metropolen mit einem Pendlerpotenzial aus dem Umland stellt sich diese Frage eher weniger. Die Bedrohung dort resultiert vielmehr aus der Tatsache, dass die Magnetwirkung von Großstädten nicht nur kaufkräftiges Publikum anzieht, wie es die Erfahrungen der letzten Monate gezeigt haben. Offenbar fühlen sich zunehmend auch gewaltbereite Menschen angezogen, die neuerdings einer gewissen „Party- und Event-Szene“ zugeordnet werden.

Vom Resultat dieser Partys und Events konnte man sich z.B. in Stuttgart und Frankfurt nach den Unruhen in den jeweiligen Fußgängerzonen noch Tage später überzeugen. Auch in anderen Großstädten wie z.B. Berlin, Köln, Nürnberg oder Essen sind soziale Brennpunkte mitten im Stadtzentrum offenbar keine Seltenheit mehr, wenn man der Berichterstattung in den Medien glauben darf und entsprechende Sicherheitskräfte selbst tagsüber in Vierergruppen durch die Fußgängerzonen patrouillieren sieht.

Wird die von vielen befürchtete Spaltung der Gesellschaft zu allererst in den Innenstädten unserer Metropolen sichtbar? Muss man einem Kommentator der F.A.Z. zustimmen, wenn dieser in so mancher deutschen Großstadt „ein Gemisch aus Regellosigkeit und Kriminalität“ sowie „verlorene Seelen aus aller Herren Länder“ beobachtet und bei Polizisten „ein Gefühl der Vergeblichkeit“ befürchtet?

Wenn diese Entwicklung tatsächlich weiter so voranschreitet, könnten Städte mittlerer Größe mittelfristig durchaus eine Renaissance erleben, die dann nicht nur noch am Wochenende die City füllt. Sowohl die Veränderung der Arbeitswelt hin zu mehr „Home-Office“ als auch der zumindest gefühlte Verlust von Sicherheit im öffentlichen Raum der Metropolen wird dazu führen, dass solche Kommunen an Attraktivität gewinnen, die man in der Immobilienwirtschaft eher despektierlich klingend zur C- oder gar nur D-Kategorie zählt (vgl. „Das ABC der Städte …“).

Überschaubarkeit statt Metropole

Räumliche Nähe, eine überschaubare Grundordnung und familiäre Sicherheit in einem immer unübersichtlicheren Weltgeschehen werden bei der Standortwahl zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Wenn das Arbeiten künftig von überall aus möglich ist (eine stabile, schnelle Internetverbindung vorausgesetzt), wird das bezahlbare Reihenhaus mit Garten und guter Nahverkehrsanbindung für viele zur Großstadtalternative.

Eine mittelstädtische Fußgängerzone benötigt dann allerdings die gebündelte Unterstützung aller Akteure: eine frequenzsteigernde Infrastruktur mit Kindertagesstätten, Ärztehäusern, Volkshochschulen, Stadtbibliotheken, zentralen Anlaufstellen für Behördengänge, Wochenmärkten, Stadtfesten und vieles mehr.

Das alles sind Voraussetzungen für ein generationsübergreifendes pulsierendes Leben. In Zeiten wie diesen sollte es ebenso zur städteplanerischen Grundhaltung gehören, nur noch im allergrößten Ausnahmefall weitere zusätzliche Einzelhandelsflächen außerhalb eines klar umrissenen Schwerpunktgebietes zuzulassen. Vereinfachte Genehmigungsverfahren, erweiterte Bestandsschutzregeln und vor allem keine zusätzlichen Regulierungen wären ebenso rettende Elemente für fragile Fußgängerzonen.

Das Thema „Mobilität & Erreichbarkeit“ sollte aus allen Perspektiven abgewogen werden. Zwar spielen Klimaschutzbestrebungen eine immer größere Rolle. Solange aber die besonders kaufkräftige Generation 50plus teilweise aus Gesundheitsgründen auf das eigene Auto angewiesen ist, sollte der Individualverkehr nicht überstrapaziert werden, so wie es in einer südbadischen Kreisstadt publik wurde.

Bei der Verabschiedung des kommunalen Finanzhaushaltes wurden vom Gemeindevollzugsdienst für das Folgejahr Mehreinnahmen in Höhe von 105.000 € eingefordert mit der konkreten „Handlungsempfehlung“ für den ruhenden Verkehr: „Zusätzlich 600 Verwarnungen pro Monat mit durchschnittlich 15 €“. Ist dieser unglaubliche Vorgang nur ein Einzelfall oder aber typisch für Deutschlands Rathäuser? Vielleicht sollten die lokalen Händlergemeinschaften bei ihrer jeweiligen Stadtverwaltung nachfragen.


 

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„Nur Läufer oder Käufer?“ Die Passanten-Frequenz mit immer weniger Aussagekraft für Fußgängerzonen

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Ein „Plan B“ gehört dazu – Eigentümer von Einzelhandelsimmobilien sollten immer vorbereitet sein