„Nur Läufer oder Käufer?“ Die Passanten-Frequenz mit immer weniger Aussagekraft für Fußgängerzonen

Bis heute werden von den meisten Einzelhandelsfirmen die Entscheidungen zur Expansion in den innerstädtischen City-Lagen nach einem robusten 2-Stufen-Modell getroffen: Zunächst die grobe Einschätzung der Städte nach Attraktivität im Großen und Ganzen mit Hilfe der üblichen kommunalen Umsatz-, Kaufkraft- und auch Zentralitätskennzahlen.

Und in einem zweiten Schritt dann die Zuordnung der vermeintlichen Toplagen anhand von Passanten-Frequenzen, die nach wie vor als zentraler Indikator zur Bewertung des Mikrostandortes innerhalb der jeweiligen City gelten.

Tatsächlich gibt es eine Korrelation zwischen dem Niveau der Ladenmieten und der Passanten-Frequenz, was sich an den Top-Lagen in München (Kaufinger Straße), Köln (Schildergasse) oder Frankfurt (Zeil) mit den bundesweit traditionell höchsten Ladenmieten bei gleichzeitig höchsten Frequenzwerten gut ablesen lässt.

Inzwischen mehren sich allerdings die Zweifel an diesem Standortbewertungsprozedere, weil gerade in diesen Top-Lagen erstmals längerfristige Leerstände auffällig sind. Vielen anderen Fußgängerzonen geht es da nicht anders.

Messungen: Immer besser?

Die Qualität der Messung von Passanten-Strömen bzgl. Genauigkeit und Vergleichbarkeit der Städte-Zahlen untereinander hat tatsächlich stark zugenommen.

Insbesondere das Startup hystreet.com der Aachener Grundvermögen konnte mit der Installation elektronischer Laser-Scanner an mittlerweile 162 Standorten in 80 Städten die Basis für die anonyme und dauerhafte Messung von Passanten-Frequenzen schaffen.

Somit sind belastbare Analysen darüber möglich, inwiefern z.B. das Wetter, die Tageszeit oder bestimmte Wochentage Einfluss haben auf die Anzahl Menschen, die an den Schaufenstern der Geschäfte vorbeiströmen.

Was aber drücken solche Frequenzvergleiche oder Rankings tatsächlich aus? Verbirgt sich hinter jedem Passanten die gleiche potenzielle Kaufbereitschaft?

Im stationären Einzelhandel der Fußgängerzonen macht sich mittlerweile die Erkenntnis breit, dass nicht alleine die Passanten-Frequenz ausschlaggebend ist, sondern dass die qualitative Zusammensetzung der Besucherströme eine mindestens ebenso große Bedeutung hat.

Wenn in vergleichbar großen Städten wie Dortmund und Dresden an guten Samstagen vor Corona die Spitzenwerte mit jeweils rund 7.500 Passanten pro Stunde ähnlich hoch lagen, dann sind die daraus abzuleitenden Umsatzerwartungen für die jeweiligen Branchen noch lange nicht vergleichbar, weil die Kaufmotive am Westenhellweg ganz andere sein könnten als die in der Prager Straße.

Welcher Kunden-Typ besucht eigentlich überhaupt noch die innerstädtischen Fußgängerzonen, weil diese für ihn noch attraktiv sind?

Wer kauft überhaupt noch an welchen Wochentagen in den Fußgängerzonen ein?

Der Wunsch nach einem besseren Kennenlernen der potenziellen Laufkundschaft führt zu einem doppelten Dilemma: erstens sind fast alle Ansätze zur feineren elektronischen Kundensegmentierung an öffentlichen Plätzen wie z.B. Gesichtserkennungssysteme zur Feststellung bzw. Abschätzung von Alter, Geschlecht und Herkunft datenschutzrechtlich zumindest auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Und zweitens erscheint es bei den aktuellen Identitäts-Diskussionen offenbar nicht ratsam, die bisherigen Ansätze klassischer Kundensegmentierung nach Lebensstilen und Werteorientierungen mit z.B. acht Milieu-Gruppen bei GfK-Roper (Träumer, Häusliche, Bodenständige, Abenteurer, Realisten, Weltoffene, Kritische, Anspruchsvolle) oder mit gar zehn unterschiedlichen Milieus wie bei Sinus (vgl. Abbildung) weiterzuentwickeln.

Generell ist festzustellen, dass sich das Einkaufsverhalten der einheimischen Bevölkerung bereits seit Längerem mit der stetigen Zunahme der Berufstätigkeit der Frauen geändert hat.

Haben früher die Frauen, durch die Rollenverteilung bedingt, noch viele Einkäufe für die gesamte Familie auch vormittags erledigen können, so ist nun die verfügbare Shopping-Zeit auf wenige Stunden am späten Nachmittag oder oft sogar nur auf das Wochenende reduziert.

Auch Heranwachsende haben aufgrund verdichteter Schul- und Ausbildungskonzepte (Stichwort: G8-Gymnasium) zunehmend weniger Zeit für Kaffee, Crêpes und Kuchen und fehlen inzwischen nachmittags in der Innenstadt.

Wer selber von montags bis donnerstags tagsüber mit offenen Augen durch die Fußgängerzonen schlendert wird schnell feststellen, dass dort zu einem Großteil Rentner bzw. Pensionäre und Menschen mit Migrationshintergrund anzutreffen sind.

Dieser Befund führt allerdings nicht wirklich weiter, weil genau diese beiden Zielgruppen in sich besonders heterogen sind. Die Kundentypisierung einer Generation 60plus könnte einerseits für eine überdurchschnittlich hohe Kaufkraft stehen, weil sie gerne genießt und auf qualitativ eher hochwertige Produkte zurückgreift, gerade auch und besonders, wenn es um Einkäufe für die Enkelkinder geht. 

Andererseits könnte die gleiche Generation 60plus mancherorts auch als sozial gefährdete Randgruppe eingestuft werden, die sich über den gesamten Vormittag hinweg gerade einmal ein einziges Warmgetränk leisten kann, mit dem sie dann den Tisch im Bäckerei Café stundenlang besetzt.

Noch schwieriger ist die Einschätzung des Kaufverhaltens von Konsumenten aus fremden Kulturkreisen. Denn bei einer steigenden Anzahl von Passanten mit Migrationshintergrund ist doch offensichtlich, dass z.B. eine schutzsuchende Arzt-Familie aus Syrien nicht unbedingt in eines dieser typischen Kundensegmente passt und zudem auch noch vollkommen andere Konsumbedürfnisse hat als allein-reisende junge Afrikaner, die hierzulande als Wirtschaftsmigranten ihr Glück suchen.

Dass es bislang kaum methodische Ansätze gibt, neue Milieu-Gruppen entsprechend zu ergänzen und bzgl. ihrer Einzelhandelsrelevanz zu differenzieren, liegt vielleicht daran, dass man dieses Vorgehen mittlerweile als pauschalisierende Bildung von Stereotypen zur Stigmatisierung missbilligen und damit schlimmstenfalls einen Shitstorm der Empörung herbeiführen könnte.

Die Folge ist, dass die Forderungen zur Revitalisierung deutscher Innenstädte spätestens seit Ausbruch der Corona-Krise zwar alle Diskussionen in den IHK-Kammerbezirken und Einzelhandelsverbänden dominieren, doch unisono beschränkt sich die Ursachenforschung für die aktuellen Entwicklungen meist auf umfassende Vorwürfe in Richtung Internet-Handel.

Die auffällige Veränderung der Zielgruppen in den Innenstädten bleibt dagegen grundsätzlich ausgeblendet.

Einerseits führt der wachsende Ausländeranteil in Deutschlands Fußgängerzonen dort zu sich oft ebenso schnell vermehrenden neuen Shop-Konzepten wie z.B. Barber-Shops, Bubble-Tea-Shops, Shisha-Bars, Donut-Läden u.a., was dann oft zu Verlagerungen von Bestandsläden in der Nachbarschaft führt.

In der früheren „Einkaufshauptstadt“ des Ruhrgebiets Essen ist z.B. die Rüttenscheider Straße als Vorstadt-Lage im Süden mittlerweile bei einigen Handelskonzepten beispielsweise inzwischen stärker nachgefragt als die Kettwiger Straße oder die Limbecker Straße mitten in der City.

Andererseits sind ausländische Shopping-Gäste für den eher hochpreisigen Einzelhandel überlebenswichtig und gerade aus „Edelmeilen“ wie z.B. der Münchner Maximilianstraße nicht mehr wegzudenken. Dabei lag der Durchschnittswert der bundesweit prominentesten Luxuslagen (in Vor-Corona-Zeiten) nach Erhebungen von BNP Paribas übrigens bei lediglich 2.400 Passanten pro Stunde. Also ein gutes Beispiel dafür, dass es mitunter weitaus wichtigere Parameter gibt als nur die bloße Passanten-Frequenz.

Es kommt offenbar nicht unbedingt auf die Zahl der Läufer, sondern zunehmend auf die Motivation der Käufer an. Und diese erreicht man am besten, wenn man deren qualitative Zusammensetzung kennt und den Trend zu immer spezielleren, und vor allem auch internationaleren Kundenbedürfnisgruppen frühzeitig antizipiert.

Was die Gastronomie-Branche schon länger erlebt, die sich auf eine zunehmend breitere Spreizung der Essgewohnheiten von der „Edel-Currywurst“ in der Porzellanschale über verschiedenste Burger- und Salatbowl-Angebote, vegane Mahlzeiten bis hin zu Spezialgerichten für Frutarier oder neuen arabischen Fast-Food-Spezialitäten einrichten muss, das hat in vielen Bereichen des Einzelhandels gerade erst begonnen.

Individualität und damit auch das „persönliche Passend-Machen“ vom customized E-Bike über das „finalisierte“ Ballkleid bis hin zur Unikat-Anfertigung eines Goldschmieds wird bei generell zahlungsbereiten Kunden immer wichtiger. Und genau dieser Dienstleistungs-Mehraufwand für den Handel könnte attraktivitätssteigernde Wirkung entfalten und somit ein wichtiger Teil zur Rettung der bedrohten Innenstädte werden.


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Zeitenwende auch in den Fußgängerzonen – Perspektiven für die Zukunft

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Die Renaissance der Mittelstädte? - Überschaubarkeit und Sicherheit als Standortfaktor