Wenn die City nicht mehr Zentrum ist: Kaufkraft geht auf Wanderung

Wenn man der aktuellen Diskussion über neue Konzepte der Stadtentwicklung folgt, so stößt man eher früher als später auf das Postulat einer sogenannten „15-Minuten-Stadt“.

Damit gemeint ist der Anspruch, zukünftig innerhalb eines Zeit-Radius von nur einer Viertelstunde mit dem Fahrrad oder auch zu Fuß idealerweise alle Anforderungen des täglichen Bedarfs erledigen zu können.

Dazu zählen der Einzelhandel vor allem mit Lebensmittel- und Drogeriemärkten sowie eine Basis-Infrastruktur mit Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen, Gastronomie, Kulturangeboten und Flächen zur Naherholung.

Mit nüchternem Blick auf die Realität kann man derartige Visionen womöglich für die Millionenstädte hierzulande weiterentwickeln und die ohnehin vorhandenen Stadtbezirke Berlins und auch die in Hamburg, München oder Köln infrastrukturell neu ordnen.

Wie aber lassen sich die Ideale einer 15-Minuten-Stadt in den übrigen Klein-, Mittel- und Großstädten begründen oder gar realisieren, die deutlich weniger Einwohner haben?

Die historische Entwicklung von Innenstädten hat sich nicht per Zufall vollzogen, sondern ist seit dem Mittelalter dem Prinzip gefolgt, dass bestimmte Handelsformen und Dienstleistungen eine bestimmte Mindestnachfrage benötigen, die außerhalb der Stadtmauer so gebündelt eher nicht vorhanden war.

Ein Marktplatz war nur dort sinnvoll, wo eine ausreichend große Menschendichte mit entsprechenden Bedürfnissen zu erwarten war. Gleichem Zentralitätsgedanken folgte man beim Bau von Rathäusern und Kirchen.

Dieses Prinzip gilt noch heute, wenn auch der Handel mittlerweile an Dominanz verloren hat und sich die entsprechend freiwerdenden Flächen nunmehr in Richtung Gastronomie, Weiterbildung und Kultur, aber auch in Richtung Life Science und Genussoptimierung verlagern. Zudem wurde jedes Mal die Idee eines zentralen Marktes dann unterlaufen, wenn sinnbildlich „draußen vor den Toren der Stadt“ eine mehrgeschossige Shopping Mall oder auch nur ein einfaches Fachmarktcenter eröffnet wurde.

Viele Jahre war für solche Parallelitäten genug Kaufkraft vorhanden. Spätestens seit Corona mit dem Trend zum Homeoffice und der Ukraine-Krise mit umgehend folgenden Energiepreissteigerungen und abrupt anwachsender Wohnungsknappheit, scheint das nun ein Ende zu haben.

Die gegenläufigen Konzepte einer zentral ausgerichteten Stadtentwicklung einerseits und dem urbanen Ideal einer 15-minütigen Erreichbarkeit fast aller Alltagsziele andererseits lassen sich recht gut mit einem Bildvergleich Zielscheibe vs. Wabenstruktur (eines Bienenstockes) veranschaulichen. Wenn man über den eigenen Tellerrand hinaus auf die internationalen Megacities blickt, dann mögen diese strukturell tatsächlich an eine Wabenstruktur erinnern.

Doch die siedlungshistorischen Vorstufen waren ein jedes Mal zunächst die punktuelle Stadtentwicklung analog zum Zielscheibenmodell. Erst durch das stetige Wachstum und der zwangsläufig folgenden urbanen Enge wurde dann später aus vielen solitären Städten eine wabenähnliche Metropolregion mit mehreren Millionen Einwohnern. In Deutschland könnte man am ehesten das Ruhrgebiet mit einer solchen Entwicklung vergleichen.

Aber gerade hier zeigt sich, dass der eigentlich vernünftige Ansatz einer „15-Minuten-Stadt“ nicht praxistauglich zu sein scheint und zumindest von den politisch Verantwortlichen in diesem Verdichtungsraum mit mehr als 5 Mio. Einwohnern bislang kaum beachtet wurde: Weder das Einkaufszentrum „Centro“ mit rd. 125.000 m2 in Oberhausen, noch der Bochumer „Ruhrpark“ mit insgesamt 115.000 m2 Verkaufsfläche scheinen sich auf Kundschaft mit nur 15 Minuten Anreisezeit beschränken zu wollen, wenn sie zudem noch mit kostengünstigen 7.550 bzw. 14.000 Parkplätzen werben.

Bleibt also festzuhalten, dass die mit dem 15-Minuten-Stadtmodell eigentlich dezentral angestrebte Urbanisierung vor allem angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vollends ins Leere laufen könnte.

Wenn überall inflationsbedingt die Kaufkraft der Bevölkerung drastisch zurückgeht und sich zudem keine Mitarbeiter mehr für überhaupt noch öffnungsbereite Einzelhändler finden lassen, dann müssen die immer weniger vorhandenen Kompetenzen des Handels so gut wie möglich zentralisiert werden.

Da die Fixkosten für Ladenbau und Gehälter weitgehend unabhängig sind von der Einwohnerzahl einer Standortkommune, ist es kaufmännisch fast zwingend, nicht mit Fokus auf einen räumlichen 15-Minutenabstand zu expandieren, sondern auf eine gewisse Mindestzentralität und die damit verbundene Kaufkraft zu setzen. 

Je stärker die allgemeine Konsumbereitschaft schwindet, umso intensiver sollte das lokale Bemühen zur Stärkung bzw. Rettung der eigenen Zentralität sein. Vor diesem Hintergrund sollte auch über die aktuellen migrationsbedingten Änderungen des Konsumverhaltens laut nachgedacht werden.

Der Trend geht momentan dahin, dass künftig nur noch diejenigen vorrangig in der City leben werden, die entweder auf eine ansehnliche Erbmasse zurückgreifen oder aber staatlicherseits mit ausreichenden, menschenrechtlich durchaus begründbaren Wohngeldzuschüssen rechnen können. 

Ein Blick auf die Tagesordnung der jüngsten Stadtmarketingveranstaltungen vermittelt den Eindruck, dass die dort behandelten Themen mitunter sehr wenig aus jenen Problemwelten stammen, in denen Einzelhändler und auch Vermieter tagtäglich zu kämpfen haben. Es scheint, als hätten all die vielen Brandbriefe, in denen mittlerweile Politiker von links bis ganz rechts ihre Hilferufe in Richtung Landesregierung oder gar Bundeskanzler entsenden, rein gar nichts mit der Aufenthaltsqualität innerstädtischer Plätze und Fußgängerzonen vor und nach Einbruch der Dunkelheit zu tun.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass viele Einzelhandelsexperten aus Politik und Verwaltung den oft zitierten „Weißen Elefanten, der im Raum steht“, einfach nicht sehen wollen.

Sind womöglich in der City randalierende und von den Medien so genannte „Party People“ mitursächlich dafür, wenn wie in Stuttgart die Zentralität deutlich rückläufig ist und somit wichtige Kaufkraft aus dem Umland fehlt?

Große Unzufriedenheit lässt sich mitunter auch feststellen, wenn man bei Verhandlungen mit Mietern und Vermietern auf das Thema der behördlichen Unterstützung kommt. Extrem enge Auslegungen beim Brandschutz, bei Entfluchtungskonzepten oder auch beim Denkmalschutz haben in den letzten Jahren wiederholt zu dauerhaften Leerständen geführt. Selbstverständlich sollen an dieser Stelle keinesfalls berechtigte Sicherheitsprinzipien infrage gestellt werden.

Aber die zum Teil doch wirklichkeitsfremde Auslegung entsprechender Normen und Richtlinien sollte zumindest bei einer passenden Schiedsstelle angezweifelt und zeitnah korrigiert werden dürfen. Oft lassen die mittlerweile zu akzeptierenden behördlichen Bearbeitungsfristen auch das Gefühl aufkommen, dass mancherorts die Probleme der Innenstadtentwicklung noch nicht wirklich erkannt worden sind.

Aber wann immer dann der Hinweis auf unbesetzte Stellen und damit verbundene inakzeptable Wartezeiten erfolgt, bleibt dem antragstellenden Einzelhändler oder 

Vermieter nur die bittersüße Erkenntnis, dass er selber ja bereits bei der Personal- oder Handwerkersuche ähnliche Frustration erlebt hat.

Kaufkrafterhalt und -zugewinn sind auch bei standortpolitischen Entscheidungen zukünftig durchaus von Interesse. 

Wie wirken sich beispielsweise große industrielle Neuansiedlungen wie die von Infineon auf die Region Dresden oder die vom Halbleiterproduzenten Wolfspeed im Saarland aus? Die Ansiedlung des Chip-Herstellers Intel in Magdeburg jedenfalls soll innerhalb der nächsten vier Jahre für 3.000 Arbeitsplätze direkt bei Intel und hunderte weiterer Job-Angebote von Zulieferern auf dem geplanten High-Tech-Campus sorgen.

Die verfügbare Kaufkraft für Magdeburgs Einzelhandel könnte sich demnach erheblich steigern, sofern es die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts versteht, sich auch als attraktiver Wohnstandort zu präsentieren. Oder dürfen bei innovativen Homeoffice-Modellen auch die Fußgängerzonen in den Städten um Magdeburg herum mit Umsatzzuwächsen rechnen?

Bei ganz flexiblen Arbeitszeitmodellen ohne tägliche Präsenzanforderung könnten die künftigen Mitarbeiterfamilien sogar die rund 60 km entfernten Städte Stendal oder Dessau als künftigen Lebensmittelpunkt vorziehen oder bei entsprechender Begeisterung über die dortige Lebensqualität auch Braunschweig oder gar Potsdam als neuen Wohnort wählen, obwohl die Entfernung zum neuen Arbeitsplatz mit 90 bzw. 120 km weit mehr als 15 Minuten erfordert.

Überfüllte Schulen mit Lehrermangel, zweckentfremdete Sporthallen oder auch ein erster Rundgang mit offenen Augen durch die jeweilige Fußgängerzone sind dann als nicht unwichtige Entscheidungskriterien zu vermuten.  


 

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